Archiv für den Monat Oktober 2015

Schwierigkeiten der ukrainischen Regulierung und diplomatische Manöver um Donbass

Трудности украинского урегулирования и дипломатические маневры вокруг Донбасса

Um die Frage zu beantworten, warum die Regulierung der Ukraine-Krise so langsam geht, muss man eine einfache Sache verstehen:

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Die Ukraine-Krise wäre gar nicht erst entstanden, wenn die ukrainische Elite minimaladäquat wäre, wenn nicht dem Niveau der Regierung eines modernen Staates, dann zumindest dem Erhalten eigener Interessen. Ich erkläre es anhand eines Beispiels. Poroschenko, Klitschko, Jazenjuk, Tjagnibock, Turtschinow und andere Autoren, Redakteure und Teilnehmer des Ukraine-Putsches einschließlich einfacher Nazis hätten es unter der Regierung von Janukowotsch besser, finanziell günstiger und politisch aussichtvoller als nach der Machtergreifung.

Die fünf erwähnten waren aussichtsvolle politische Figuren: Klitshko, Jazenjuk und Tjagnibock angesehene politische Führer, Poroschenko ein ständiger Anwärter für die höchsten Posten, der schon Wirtschaftsminister und Außenminister sowie Sekretär des ukrainischen Sicherheitsdienstes gewesen ist. Turtschinow hatte eine der größten politischen Parteien des Landes kontrolliert, die in jeder Situation garantiert im Parlament dabei war, und bei der unabwendbaren Niederlage von Janukowitsch in den Wahlen 2015 wäre er zu einem der Anführer der legitim gewonnener und zur Macht gewordenen Opposition geworden.

Den Rechtsextremen, die später die „Selbstverteidigung von Maidan“, Freiwilligen-Bataillonen und andere illegalen Gruppen gebildet haben, ging es bei Janukowitsch mehr als gut. Sie haben verprügelt, und manchmal auch getötet, wen sie wollten und wann sie wollten. Höchste Strafe – Einlieferung auf die Polizeiwache, woher sie praktisch sofort wieder entlassen wurden (zwischen 2010 und 2014 mussten wirklich nur ein paar total abgebrühte Kriminelle tatsächlich ins Gefängnis, die so frech geworden sind, dass es nicht anders ging). Die Regionalen hatten der eine vor dem anderen die Nazis finanziert. Geschweige denn von der „Hilfe“ der westlichen Freunde, nicht nur finanziellen, sondern auch organisatorischen.

Gewöhnliche „Grantenfresser“ aus den prowestlichen Medien und NGOs wurden für ganz unprofessionelle Arbeit nicht schlecht bezahlt (nur sie selbst haben sich für Journalisten oder Experten gehalten). Außerdem haben die Regionalen sie gepflegt und gehegt, sich bei ihnen eingeschleimt, und sie auch noch bezahlt, damit diese über sie schimpfen und dazu aufrufen, sie aufzuhängen.

Nach dem Putsch wurden die Nazis an die Front geschickt, wo die gewöhnliche Straflosigkeit sofort beendet wurde und man angefangen hat, auch sie zu töten, was von ihrem Standpunkt aus eine himmelschreiende Ungerechtigkeit ist. Die „Grantenfresser“ hat man aufgehört, zu bezahlen (das verbrecherische Regime wurde gestützt, man braucht nicht weiter zu kämpfen). Die dümmsten von ihnen sind auch an der Front gelandet (manche sind schon tot), die klügsten sind zu Volontären geworden, aber dort ist die Konkurrenz hoch – nicht jeder ist in der Lage, die großen Geldströme zu erreichen, die meisten müssen Socken und Fleischkonserven klauen.

Die politische Elite hat entdeckt, dass sie, nachdem sie die Macht ergriffen hat, gleichzeitig das Land zerstört hat. Es ist in der Ukraine weder Gesetz, noch Ordnung, noch Geld geblieben. Dazu hat sich jeder Beteiligte auch noch strafbar gemacht, und zwar für Sachen, die im Strafrecht keine Verjährung haben (für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen). Und diese Verbrechen werden nicht nur mit lebenslanger Freiheitsstrafe und manchmal auch mit dem Tode bestraft, sondern auch mit Konfiszierung von allem „schwer verdienten“.

So haben alle an dem Putsch beteiligten Personen und soziale Gruppen weniger bekommen als sie bei einer evolutionären Entwicklung der Situation hätten haben können, und ihre Verluste sind nicht einfach nur riesig, sondern auch mit dem Ergebnis nicht vergleichbar. Wobei es von Haus aus klar war, dass der Zusammenbruch der ukrainischen Nazi-Staatlichkeit genauso vorprogrammiert ist wie im April der Zusammenbruch des Nazi-Deutschlands vorprogrammiert war. Die Frage der Fristen kann auf verschiedene Weise gelöst werden, aber das Ergebnis wird dasselbe sein.

Sie alle, von dem letzten Schläger bis zum angeblichen Präsidenten Poroschenko, haben sich somit nicht in dieses Spiel mit reinziehen lassen, weil ihnen alle Risiken bewusst waren und sie einen Plan für deren Minimierung hatten, sondern aufgrund ihrer vollkommenen intellektuellen Sterilität. Sie haben blind daran geglaubt, dass die USA und EU davon träumen, die Ukraine als ein starkes und effizientes Gegengewicht zu Russland zu benutzen, und das heißt, „weiße Menschen“ vom Westen, die mit großen Booten kommen, alles bezahlen, alles organisieren, bei allem helfen, und den hiesigen Häuptlingen bleibt nur noch übrig, den Federschmuck zu wechseln und untereinander die Einkommen aufzuteilen. Und das glauben sie immer noch. Übrigens, das glauben auch die sich inzwischen radikalisierten russischen National-Patrioten, die sogar das Default der Ukraine, das von den USA eingewilligt wurde, übersehen haben und immer noch erzählen, wie sich das Kiewer Regime schrecklich verstärkt hat.

In der Zeit seit Februar 2014 hat sich in der psychischen Organisation der ukrainischen Elite nichts geändert. Sie glauben immer noch aufrichtig, dass sie für Washington einen unvergänglichen Wert darstellen. Sie glauben auch, dass Russland sich in 2-3 Monaten, längstens in einem halben Jahr, wirtschaftlich erschöpfen und politisch zusammenbrechen sollte. Das heißt, ihrer Meinung nach, man muss nur ein wenig Geduld haben, ein wenig aushalten, und der Sieg landet von alleine in ihrer Tasche.

Ich weiß, dass die Idee, dass so viele Menschen, die seit 2,5 Jahrzehnten einen großen europäischen Staat regieren, einfach nicht adäquat sind, nach einer Übertreibung aussieht. Aber ich habe mich seit vielen Jahren mit Vertretern der ukrainischen Elite unterhalten und kann schwören, dass sie sogar noch dümmer sind, als sie erscheinen können. In Wirklichkeit hat sie oft gerade ihre Dummheit gerettet, weil Partner oder Opponenten an solche Einfältigkeit nicht glauben konnten und einen verborgenen Sinn in den Handlungen der ukrainischen Politiker gesucht haben. Erinnern Sie sich, dass der undeutliche Kutschma die Macht von dem reifen Krawtschuk genommen hatte, dann die Niete Juschtschenko die Macht von Kutschma genommen hatte, und dann alle „Orangenen“ miteinander die Macht zugunsten von Janukowitsch verloren haben. Und letztendlich hat Janukowitsch, über den man noch ein halbes Jahr von seiner unrühmlichen Niederlage gesagt hatte, dass er das ganze politische Feld des Landes völlig kontrolliert, die Macht an die schon ganz ominösen Personen aufgegeben. Aber nachher hat sich herausgestellt, dass auch das noch nicht das Ende ist, und ihnen schon Ljaschko, Sementschenko und Co. in den Rücken schnaufen. Ja, und die „großen“ Kutschma und Krawtschuk arbeiten als Knechte für Poroschenko. Ein solcher Kreislauf der Macht in der Natur ist nur in dem Fall möglich, wenn die Personen (von Krawtschuk bis Sementschenko) intellektuell ungefähr gleich sind.

Der zweite Teil des Problems liegt darin, dass unsere europäischen „Freunde und Partner“, wie alle normalen Menschen, nicht glauben können, dass sie mit pathologischen, inadäquaten Menschen zu tun haben, die dazu noch niemals im Leben ein Wort der Wahrheit gesagt haben. Europäer wissen, dass ein Politiker gezwungen ist, sowohl Partner, als auch Opponenten und sogar Wähler anzulügen, aber sie sind überzeugt, dass das Ganze im Rahmen gewisser Regeln geschehen soll. Das heißt, einfach ins Gesicht lügen darf man nicht, man wird doch sofort dabei ertappt.

Daher war es auf der ersten Etappe der Verhandlungen über die Ukraine-Krise sehr schwierig für die russische Diplomatie, Merkel und Hollande zu überzeugen, dass die Vertreter der Ukraine immer, in allem und ständig lügen. In Paris und Berlin meinte man zwar, dass Kiew natürlich ein wenig mogelt, aber auch Moskau an manchen Sachen schuld ist; darauf war die Strategie der europäischen „Vermittlung“ in dem Konflikt aufgebaut.

Die Situation hat erst nach Minsk 2 begonnen, sich zu ändern. Im Laufe der 16-stündigen Verhandlungen, wo der Kampf für die Formulierungen hauptsächlich zwischen Merkel und Putin gelaufen ist, bei einem schlafendem Hollande und einem Poroschenko, der die Verbindung mit der Realität verloren hatte, hat die föderale Kanzlerin gut gemerkt, wer, wem und was versprochen hat und umsetzen soll. Außerdem hält Merkel als Tochter eines Pastors trotz Jahrzehnten in aktiver Politik Moral nicht gänzlich für ein leeres Wort.

Nach 2. Minsk, im Laufe dessen, als Kiew seine Verpflichtungen erfüllen sollte, ist es für die föderale Kanzlerin von Deutschland und den Präsidenten von Frankreich offensichtlich geworden, dass Poroschenko nicht einfach nur ungeniert lügt, sondern auch noch versucht, sie zu Mittätern seiner Lüge zu machen. Und wenn sie nicht genug Begeisterung erweisen, beschwert er sich bei den USA. Wobei, wenn es Hollande, der schon Präsident war und es nie mehr sein wird, relativ egal ist, kann Merkel noch um den Posten der Kanzlerin kämpfen (plus ihre in der Kindheit mitgegebenen Moralvorstellungen). Poroschenko ist zu einem Faktor geworden, der Angela Merkel ärgert – die Anführerin des Landes, das die EU verkörpert. So ärgert, dass selbst die Argumente von Washington sie nicht dazu zwingen konnten, bei den Taten des ukrainischen Präsidenten die Augen zuzudrücken.

In Paris hat Merkel, die nicht wollte, dass ihre Friedensinitiativen (Pariser und Normandie- Formate) mit einem Krach durch einen verlogenen Konditoren enden, eine Position genommen, die man ohne Übertreibung prorussisch nennen kann. Natürlich hat sich die Kanzlerin zuerst vergewissert, dass Putin nicht nachgeben und Minsk 2 nicht so „lesen“ würde, wie es der unbeteiligte Obama und der inadäquate Poroschenko tun. Dann ist das geschehen, wovon alle gehört haben. Schon nach der Abreise von Putin und Poroschenko haben Merkel und der sich angeschlossene Hollande ganz deutlich die Forderungen an Kiew formuliert:

  1. Die Verfassung zu ändern, so dass sie eine echte und nicht nur eine Schein-Dezentralisierung ermöglicht.
  2. Das Gesetz über den Sonderstatus von Donbass auftauen zu lassen.
  3. Die Gesetzgebung der Ukraine so zu ändern, dass dieses Recht von Donbass gesichert wird, und zwar fristlos.
  4. Diese ganzen Änderungen in der Verfassung und der Gesetzgebung mit Vertretern der DVR und LVR zu vereinbaren.
  5. In der Verchovna Rada das Gesetz über eine allgemeine und volle Amnestie der Volkswehrmitglieder und Anführer der DVR und LVR zu ratifizieren.

Jetzt muss Poroschenko entweder diese Forderungen umsetzen. Dann würde er in der Tat gesetzlich die Aufgabe von Donbass durch die Ukraine bestätigen (de facto macht ein Gesetz über den Sonderstatus von Donbass das Befinden der DVR und LVR in der Ukraine noch nomineller als die Zugehörigkeit von Kanada zur britischen Krone) und erkennt die Legitimität der amtierenden Macht der DVR und LVR an. Oder kann er versuchen, wieder zu lügen. Aber dann würde er schon unmittelbar Merkel anlügen. Es war sie und nicht Putin, die die Forderungen an Poroschenko ausgesprochen hat; das heißt, es waren nicht Forderungen von Russland, sondern von der EU. Die Tochter eines Pastors würde dem Konditor eine solche Blasphemie über ihre Moralvorstellungen kaum verzeihen.

Das einzige Problem war, dass, um diese ganzen Forderungen umzusetzen (oder sich zu überzeugen, dass er sich davon drückt), Poroschenko Zeit braucht. Ca. ein halbes Jahr, wenn man der ukrainischen Gesetzgebung genau folgt. Um Petr Aleksejewitsch dieses halbes Jahr zu geben, haben die DVR und LVR eingewilligt, die Kommunalwahlen auf das Ende des Winters zu verschieben, und sogar eher auf März-April 2016. Und Kiew hat diese Entscheidung schon begrüßt.

Sobald Kiew in die Initiative der DVR und LVR eingewilligt hat, ist er in die nächste Falle geraten. Jetzt wird der Minsk-Vorgang, unabhängig davon, ob er die von Minsk geforderten Reformen durchführen würde oder nicht, auf 2016 verlängert (zumindest bis die DVR und LVR die Kommunalwahlen durchführen). Und jeder Versuch von Kiew, etwas zu ändern, wird von Merkel als ein Bruch des Minsk-Vorgangs durch Poroschenko interpretiert.

Ich erinnere Sie daran, dass Paris und Berlin die Verlängerung von Minsk ausdrücklich gefordert haben, Russland und Donbass nichts dagegen hatten, aber Kiew und Washington unbedingt das Format unbedingt 2015 schließen wollten. Der Grund ist einfach: Kiew kann das Minsk-Format nicht umsetzen. Aber er hat ihn unterzeichnet. Und je länger Poroschenko Merkel und Hollande an der Nase herumführt, desto schwächer wird die europäische Unterstützung der Ukraine. De facto gibt es gar keine mehr. Um aus dieser Gabelung herauszukommen, müsste Kiew das Minsk-Format zerstören, dann könnte man über die Vereinbarung eines neuen reden. Dabei hätte sich Washington aktiv hineingedrungen und die DVR und LVR würde aktiv herausgequetscht werden. Die einzige Möglichkeit, das Minsk-Format zu zerstören und dabei keinen Konflikt mit Europa zu schaffen, hätte Kiew die Nicht-Verlängerung des Minsk-Formats geben können, das 2015 ablaufen sollte. Nach Paris und der heutigen Zusage der Verschiebung der Kommunalwahlen in der DVR und LVR hat Kiew eine solche Möglichkeit nicht mehr.

Und als Bonus verstehen unsere europäischen Freunde und Partner jetzt ganz gut, mit wem sie in der Ukraine zu tun haben, und pflegen keine Illusionen mehr.

Rostislaw Ischtschenko, Beobachter der Informationsagentur „Russia today“